Der Bildaufbau

Raumgestaltung und Bildkontinuum

Gestaltung des Bildraums

In der europäischen Kunst kennen wir die Erzeugung eines illusionistischen Bildraums aus der Antike und dann wieder ab der Renaissance. Im Mittelalter spielte die Bildraumillusion keine Rolle.

Oft wird behauptet, das läge daran, dass die Künstler des MA diese Fertigkeit verloren hätten. Tatsache ist aber, dass diese Art der Raumdarstellung aus religiösen Gründen nicht gewünscht war. Dass die Künstler die Illsuionierung von Raum ab dem 15. Jh. wieder lernen mussten, war also eine Folge dieser kulturellen Vorgaben.
Wie kann Raumeindruck im Gemälde erzeugt werden?
- durch mathematische Konstruktion einer Perspektive
- durch malereische Wiedergabe des Seheindrucks mit Hilfe von Farbe (Beleuchtungsillusion)
Unten sieht man einige Gemäldebeispiele aus der Kunstgeschichte vom Mittelalter bis zu heutigen Zeit.
Römische Wandmalerei
Die Künstler schaffen eine Raumillusion durch Staffelung. Der Raum ist nicht konstruiert und die Proportionen entsprechen nicht der Sehgewohnheit.
Reichenauer Buchmalerei, um 1000

Die Bildelemente werden auf eine ornamentale Weise angeordnet. Eine realistische Raumillusion wird nicht angestrebt.
Piero della Francesca, Auspeitschung Christi, 1460

Die italienische Renaissance konstruiert den Bildraum nach mathematischen Prinzipien. An diesem Bild sieht man gut, dass Piero den Bildaufbau so wählt, dass diese Konstruktion selbst zum Thema wird.
Brueghel d.Ä. Die Jäger im Schnee, 1565

Die Niederländer entwickeln gleichzeitig mit den Italienern den illusionistischen Bildraum. Sie legen aber den Fokus auf die Wiedergabe des Seheindrucks. Die Räume sind nicht so konstruiert wie bei den Italienern. Brueghel ist der Erfinder des „Verbindungsraumes“. Durch die Anordnung der Elemente (hier Dörfer, Felder, Fluss) wandert das Auge quasi mäandernd durch den Illusionsraum..
Franz von Lenbach, Der Titusbogen, 1860

Die Bildgestaltung durch Raumillusion bleibt obligatorisch bis zu Mitte des 19. Jh. Die festgelegten Regeln der sogenannten „akademischen Malerei“ möchten die Künstler zunehmend durchbrechen. Das führt zur Geburt der „Moderne“. Ein wichtiger Ansatz dabei ist der Umgang mit der Raumgestaltung im Bild.
Max Liebermann, Am Strand von Nordwijk, 1905

Liebermanns Raum entspricht zwar vollkommen der Sehgewohnheit, die Proportionen sind stimmig. Er vereinheitlicht den Raum aber auf eine spätimpressionistische Art durch seine Malweise und durch die Farbgebung, die die Einzelmotive miteinander verschmelzen lässt.
Leo Putz, Waldesruhe, 1925

Noch deutlicher wird das bei Bild von Leo Putz. Das Spiel der Lichtflecken, das sich über die gesamte Bildfläche verteilen, macht das Bild fast wieder zu einem ornamentalen Muster. Eine kleine Nebenbemerkung: Beliebte Bildmotive wie hier Nackte in der Natur werden immer wieder aufgenommen. Hier greifen die Künstler Bildlösungen gegenseitig auf und zitieren gerne Kollegen.
Max Beckmann, Die Synagoge Frankfurt, 1909

Auf welche Kunstrichtung Beckmann hier zurückgreift ist klar: natürlich auf den Kubismus. Dadurch ergeben sich nochmals neue Möglichkeiten der Raumgestaltung. Statt Linearität gibt es perspektivische Verschachtelung.
Georg Baselitz, Der Wald auf dem Kopf, 1969

Noch eine Möglichkeit, mit Raum umzugehen. Baselitz dreht die Welt um 180° und ein Bild wird bei durchaus „richtig“ gemaltem Raum zu einer Abstraktion.
Die kunstgeschichtliche Entwicklung hat zur Folge, dass sich heute jeder Künstler auch die Frage stellen muss, wie er mit der Raumgestaltung im Bild umgehen will. Trotzdem gibt es auch „Moden“. Zur Zeit des abstrakten Impressionismus in den späten 40er und 50er Jahren des 20 Jh. war Raum völlig verpönt. Die Flachheit der Leinwand musste betont werden. Schnell bildeten sich aber wie bei jeder Mode Gegenbewegungen wie der Hyperrealismus.
Heute stehen ganz unterschiedliche Haltungen nebeneinander, wie die untenstehenden Beispiele zeigen.
Ben Willikens, Gegenräume, Gouache Nr.747, 2007

Willikens hat des durchkonstruierten Raum zu seinem Arbeitsthema gemacht und variiert Innenräume in enormer Anzahl. Die Farbgebung bleibt dabei immer völlig reduziert. Der Fokus liegt auf der Raumillusion.
David Hockney, A Bigger Interior with blue Terrace and Garden, 2017

Hockney hat sich in vielen Werkserien mit der Perspektive auseinandergesetzt. In seinen Bilder geht er nicht von der Konstruktion aus, er will das Erleben von Raum beim Durchschreiten oder Durchfahren sichtbar machen. Seine Bildräume sind daher nicht immer perspektiv-logisch.
Herbert Brandl, o.T., 2002

Der österreichische Maler ist bekannt geworden mit seinen Bergbildern. Sie sind sein Lebensthema geworden. Brandl Bilder erinnern an den künstlerischen Anspruch der Romantik, nämlich durch das Landschaftsbild Empfindungen zu vermitteln. Im Verlauf seiner Arbeiten hat er die Perspektive immer mehr vernachlässigt und kommt so zu beinahe völlig ungegenständlicher Malerei. Dazu setzt er immer wieder eine extreme Nahsicht ein.
Keith Haring, o.T., 1987

Bei der Malerei von Keith Haring ging es von Beginn an überhaupt nicht um den Raum. Die Figuren werden als einzelne klar voneinander abgegrenzte Farbflächen arrangiert und bilden eine ornamentale Struktur, wie wir sie vom Mittelalter kennen.

Bildkontinuum

Wir kommen zum letzten Punkt dieser Theoriereihe. Der Begriff „Bildkontinuum“ ist nicht ganz leicht zu erklären. Ich hoffe, es gelingt.
Wir gehen noch einmal zurück zu unserem Anfangsbeispiel, Tintorettos „Venus, Mars und Vulkan“ von 1550.
Das Gemälde bezieht sich auf eine mythologische Erzählung aus der Antike. Wie  bei religiösen Motiven muss das Bild so gestaltet werden, dass der Betrachter die zugrundeliegende Erzählung nachvollziehen kann und die Bedeutung erfasst. Ein großer Künstler wie Tintoretto ging dabei über eine reine Illustration hinaus. Er erlaubte sich einige Freiheiten, die eine eindeutige Zuordnung der Szene zur Erzählung verunmöglicht, dafür einen umso größeren Interpretationsspielraum lässt (die Kunstwissenschaftler streiten noch heute). Es ist sicherlich zu zu verstehen, dass Tintoretto dafür seine Figuren ganz bewusst in Szene setzen musste. Wir haben schon die Bedeutung von Gesten und Anordnung auf dem Bildraum im Theorieteil 1 gesehen.
Tintoretto geht aber noch weiter. Er kümmert sich nicht nur um die Bedeutung des Bildes allein, sondern auch um das Auge des Betrachters. Ich habe hier einmal die Hauptfiguren weggenommen und was bleibt übrig? Unglaublich viel, was mit der eigentlichen Geschichte gar nichts zu tun hat! Das, was wir oft als „Hintergrund“ abtun, hat hier eine riesige Vielfalt von Mustern, Draperien, der Spiegel! usw. und fordert unser Auge auf, permanent im Bild herumzuwandern. Die Fläche des Hintergrundes ist größer als die der Hauptfiguren, und ihr wisst alle, wie schwierig das zu gestalten ist.
Es dauert, bis wir wirklich alles gesehen haben. Dadurch schafft Tintoretto ein Bildkontinuum, das unabhängig ist vom eigentlichen Motiv. (Brueghel ging ähnlich vor, ihr könnt es ja einmal vergleichen.)
Das Bildkontinuum ist also zu verstehen als eine Art zusammenhängendes Ganzes, ein Bildfläche, die nicht in Einzelteile zerfällt. Dieses Gestaltungsproblem wurde für die Künstlern erst drängend,  als sie in Ablehnung der akademischen Malerei auf die Darstellung religiöser und mythologischer Themen verzichteten. Das Paradigma der akademischen Kunst war ja „Kein Bild ohne Text“.  Jetzt gab es für die modernen Maler keinen Text mehr, dem die Bildanordnung folgen konnte. Besonders Paul Cézanne beschäftigte sich mit dieser Problematik. Mit seinen Überlegungen zur Bildgestaltung wurde er zum „Vater der modernen Malerei“
Paul Cézanne, Blick auf den Mont St. Victoire, 1897
Man kann Cézanne mit einem Satz zusammenfassen: Ein Bildaufbau muss bildimmanenten Strukturen folgen und nicht äußeren Gegebenheiten. Cézanne lebte ja noch vor der Erfindung des ungegenständlichen Gemäldes. Er sprach von einem Bild „parallel zur Natur“ und nicht „nach der Natur“. (Ihr kennt das, wenn ich eine Argumentation „So war es halt“ für eine schlechte Bildanordnung nicht gelten lasse.)
In Cézannes Bildern kann man gut nachvollziehen, wie er sich um diese bildimmanente Strukturierung bemüht hat. Sein Malerleben war eine ständige Suche danach. Er bleibt zwar weitgehend bei einer naturalistischen Proportion und Farbgebung, auch wissen wir bei seinen Bildern um eine Raumtiefe des Motivs, aber er betont sie nicht durch seine Malerei. Im Gegenteil, dadurch, dass er seine Bildfläche auf eine geometrisch-rhythmische Weise strukturiert, verunklärt er sowohl Raum als auch Gegenstand. Die Bildfläche wird bei ihm zu einem Kontinuum von Farbflecken. (Französisch „taches“ – Im 20. Jh. gibt es dann einen abstrakten Stil, der Tachismus genannt wird.)
Paul Cézanne, Jardin de Lauves, 1906
Man sollte nicht modellieren sagen“, so Cézanne, „man sollte modulieren sagen. […] Es gibt keine Linie, es gibt keine Modellierung, es gibt nur Kontraste. Diese Kontraste werden aber nicht von Schwarz und Weiß hervorgebracht, sondern von der farblichen Empfindung. Aus der richtigen Beziehung zwischen den Farbtönen ergibt sich die Modellierung. Wenn sie harmonisch nebeneinander gesetzt werden und alle vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst.“
Auf diese Weise schafft Cézanne in seinen Bildern ein Bildkontinuum. Dass die Malweise Cézannes kein Rezept für die nachfolgenden Maler (und uns) sein kann, ist klar. Lösungen für stimmige Gliederungen der gesamten Bildfläche muss jeder für sich selbst finden. Aber dass man sie finden muss und dass ein reines „Abmalen“ keine Bildlösung in diesem Sinne sein kann, dürfte ebenso klar sein.
Pablo Picasso, Minotaurus, 1936
Soviel zu diesem etwas schwierigen Thema. Zum Abschluß nur so viel: Schon Picasso hat wieder die verpönten mythologischen Themen aufgenommen, allerdings gar nicht akademisch und Gerhard Richter begründet sein frühen Erfolg auf nur abgemalte Fotografien. Warum auch das geht, wäre zu diskutieren, wenn wir irgendwann mal wieder dürfen.
Richter
Gerhard Richter, Kuh, 1964
THE END